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Das Projekt "Fundamenta MM" für Wissenschaft und Kunst

In den Ankündigungen für diese Konferenz fielen hochtönende Worte. Vom Beginn einer "anaskopischen Zivilisation" war da die Rede, von der "Interface Kultur" und schließlich vom Heraufdämmern eines "leonardischen Zeitalters". Die Inhalte, die während des ersten Treffens der europäischen Initiative "Fundamenta MM" in Ulm verhandelt wurden, waren glücklicherweise weniger apokryph. Die "Fundamenta" - im Juli 1993 in Venedig gegründet - verstehen sich als ein Dach- und Netzwerkprojekt, in dem sich bisher mehr als zwanzig europäische Kulturinstitutionen zu einem losen Verbund zusammengeschlossen haben. Durch einen fächerübergreifenden Dialog zwischen Künsten und Wissenschaften wollen die "Fundamenta" - mit Blick auf das nächste Jahrtausend - Orientierungen schaffen und Wege zum praktischen Handeln eröffnen. Angesichts der üblichen Wirrnis bei der Koordination kultureller Institutionen auf europäischer Ebene ein wahrhaft heroisches Unterfangen. Möglich geworden ist es nur durch das engagierte Handeln von Kulturmanagern, jungen Wissenschaftlern, Künstlern und kampferprobten Rhetoren wie Bazon Brock, Hans Ulrich Reck von der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und Vittorio Fagone, dem Leiter der Biennale in Venedig. Doch ohne einen Koordinator, wie den allgegenwärtigen Elmar Zorn vom neueröffneten Stadthaus in Ulm, dessen Architektur dem Unternehmen einen ebenso noblen wie funktionalen Rahmen gab, wären die hochfliegenden Pläne wohl auf dem Konzeptpapier.- pardon, dem Computerspeicher - stehengeblieben. Zorn ist es tatsächlich gelungen ein Netz zu spannen, das von Italien bis in die USA reicht und durch einige Notabeln des Kulturbetriebs getragen wird. Wenn das ehrfurchtsheischende "name-dropping" vorüber ist, stellt sich die Frage nach den Inhalten jedoch um so dringlicher. Das von Jürgen Wertheimer, Professor für Komparatistik in Tübingen, vorgestellte Projekt "Integration - Ab wehr - Konflikt", das sich die Erforschung multikultureller Situationen zur Aufgabe gestellt hat, ist zweifellos - nicht nur im Blick auf Sarajewo - eine notwendige kulturelle Aufgabe. Dennoch handelt es sich dabei um ein klassisches geisteswissenschaftliches Forschungsprojekt mit interdisziplinären Methoden, das auch ohne die "Fundamenta" betrieben werden kann. Auch das Rahmenprogramm der "Agricola"-Feiern in diesem Jahr, das von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen betreut wird, ist eher ein konventionelles Programm zur Förderung kultureller Identität und wissenschaftshistorischer Erkenntnisse als ein Aufbruch zu neuen Horizonten. Darüber kann auch der Zeitbezug zur Renaissance nicht hinwegtäuschen. Wenn die Grenzen möglicher Kooperation zu weit gesteckt werden flieht der Diskurs schnell ins Unverbindliche. Nach zwei Tagen anregender, teil weise kontrovers geführter Diskussionen zeigte sich, daß die Chance einer Begegnung von Kunst und Wissenschaft zunächst wahrscheinlich nur auf den Feldern besteht, auf denen die Beziehungen nie ganz abgerissen sind: dem Design, der Architektur, der Städteplanung. Helmut Krauch, Professor für Systemdesign in Kassel, zeigte mit seinen Forschungen zum "Stirling-Motor", daß nicht nur bei der Vermittlung, sondern auch in der Entwicklungsphase neuer, umweltverträglicher Technologien die Kreativität und Intuition der Künstler gefragt ist. In diesem Sinne bergen auch Marcello Kahns Versuch, die Megapolis Sao Paulo mit den Mitteln des Mythos zu erforschen, und das Architekturmodell einer Wissensstadt von der "Siemens-Forschung" neue Ansätze. Ungeachtet aller Mahnungen und Appelle haben sich die Subspezialisierung der Wissenschaften und die daraus resultierenden Sprachbarrieren in den letzten Jahren verstärkt und verschärft. Der Graben, der zwischen Kunst und Wissenschaft klafft, ist an vielen Stellen unüberbrückbar geworden. Vor diesem Hintergrund ist jeder Versuch, den auseinanderdriftenden Eindrücken, Emotionen und Aktionen, die unser Leben ausfüllen, Sinn zu verleihen, schon ein Erfolg. Wenn auch nur einige der Projekte, die in Ulm vorgestellt wurden, in der Zukunft zu einer konstruktiven und vor allem länderübergreifenden Zusammenarbeit führen, hat sich die Mühe gelohnt. Das während der Tagung diskutierte "Ulmer Manifest" könnte eine Orientierungshilfe bilden. Ob jedoch angesichts der zarten Pflänzchen sogleich von der Morgenröte eines neuen "leonardischen Zeitalters" gesprochen werden kann, darf bezweifelt werden.

ANDREAS KÜHNE

Süddeutsche Zeitung, 25.2.94



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